An die bildungspolitischen Sprecher*innen der Fraktionen im Landtag Sachsen-Anhalt

und zur Kenntnis an

Bildungsministerin Eva Feußner
sowie
Sozialministerin Petra Grimm-Benne

Magdeburg, 19.07.2023

Sehr geehrte bildungspolitische Sprecher*innen der demokratischen Parteien des Landes Sachsen-Anhalt,


die aktuelle Debatte um die Zukunft der Schulsozialarbeit erfordert erneut eine Stellungnahme, insbesondere aus queerpolitischer Perspektive.


Durch die veränderte Finanzierung der Schulsozialarbeit kam und kommt es dazu, dass finanzschwache Kommunen nicht in der Lage waren/sind, den entsprechenden Anteil der Ko-Finanzierung aufzubringen. Das bedeutet wiederum einen Wegfall der Schulsozialarbeit, was die wichtigen ersten Erfolge gefährdet.


Aufgrund dieser Situation kam es schon in der jüngsten Vergangenheit, in einigen Landkreisen, zu Streichungen von Schulsozialarbeit*innenstellen. Schulen waren schon im vergangenen Jahr mit den großen Herausforderungen konfrontiert nach alternativen Finanzierungsmöglichkeit Ausschau zu halten, um Stellen zu halten.


Die Haltung bzw. Förderung von Schulsozialarbeit wurde in der Vergangenheit schon häufig und überwiegend defizitorientiert betrachtet. In Bezug auf die Ausstattung mit Fachpersonal im Kontext der Schulsozialarbeit wurden Schulen, an denen es vermehrt multidimensionale Problemlagen gibt, gegenüber Schulen mit weniger vielschichtigen Herausforderungen priorisiert.


Seit Jahren sind Schulsozialarbeiter*innen auch Anlaufstellen für Schüler*innen mit multidimensionalen Problemlagen und persönlichen Herausforderungen, die nicht nur mit der Sicherung des Schulerfolges, Migrationsanteil und Ähnlichem zusammenhängen. Im Speziellen schwule, lesbische, bi, trans*, inter*, nichtbinäre und queere junge Menschen sehen in den Schulsozialarbeiter*innen häufig erste Ansprechpersonen für ihre Problemlagen und Herausforderungen. Besonders in den Regionen außerhalb der Ballungszentren ist Schulsozialarbeit häufig die erste und meist auch einzige Anlaufstelle junger queerer Menschen, wenn es um Diskriminierung, Mobbing, Fragen zur sexuellen und/oder geschlechtlichen Vielfalt und möglicher Beratungs- und Freizeitangebote geht.


Schulische Strukturen sind häufig, auch heute noch, Orte von Queerfeindlichkeit. Dies können wir anhand der Rückmeldungen von jungen queeren Menschen, Hilfeersuchen von Fachkräften, sowie zahlreichen Studien rückschließen. Auch im Rahmen von Beratungen, außerschulischer Bildungsarbeit, Aufklärungsprojekten in Schulen, Fachkräftefortbildungen und z.B. der jährlich stattfindenden Kooperationsfachtagung – „Kinder- und Jugendhilfe & Schule verqueeren“ – sehen wir bis heute Tendenzen, die für queere Jugendliche kaum aushaltbar sind. Zudem steigen Beratungsbedarfe zu Themen der geschlechtlichen Identität, bezogen auf trans*, inter* und nicht-binäre junge Menschen, die auch mit dem schulischen Alltag zusammenhängen: z.B. sanitäre Situationen, Bewertungen im Sportunterricht, Umkleidesituationen, Umgang mit TIN* jungen Menschen bei Klassenfahrten und verwalterische Aspekte.


Die Schulsozialarbeit ist häufig impulsgebend für die Sensibilisierung von Lehrpersonal und Schüler*innen im Kontext der geschlechtlich und/oder sexuellen Vielfalt in den jeweiligen Schulen, was dazu führen kann, dass über einen längeren Zeitraum eine einschließende und offene Atmosphäre von und für queere Schüler*innen entsteht.


Sehr gute Beispiele sind hierbei die Schulsozialarbeit der Sekundarschule „Adolf Diesterweg“ und des Winckelmann-Gymnasiums in Stendal, welche seit Jahren schon – beginnend mit den Klassenstufen 5 – mit entsprechenden Sensibilisierungen beginnen und landesweit vorhandene, empowernde Strukturen für queere Schüler*innen nutzen. Dies führte dazu, dass sich queere Jugendliche an diesen Schulen nicht verstecken müssen. Das war auch dort nicht immer so – erst die offene und aktive Arbeit der Schulsozialarbeiter*innen hat dies bewirken können.


An dieser Stelle möchten wir darauf hinweisen, dass Schüler*innen im Kontext Schule nicht nur als Schüler*innen wahrgenommen werden sollten, sondern als junge Menschen, mit unterschiedlichen Herausforderungen sowie Bedarfen, weshalb ein Perspektivenwechsel anzuraten wäre. Eine Zielerfüllung der Schulsozialarbeit an Zahlen wie Schulverweigerung, Migrationsanteil und Schüler*innen ohne Abschluss zu bemessen, reicht nicht aus. Die queersensible Arbeit der Schulsozialarbeiter*innen ist vor allem für queere Jugendliche ein wichtiger Ansatz, um sichere Orte und Ansprechpersonen zu bieten, die anderweitig durch Kinder- und Jugendhilfeangebote, aufgrund fehlender Strukturen, oft nicht gegeben sind.
Darüber hinaus hat die Corona-Pandemie durch Lockdown-Maßnahmen und Schulschließungen dazu geführt, dass junge Menschen entsprechende Lernrückstände aufweisen, queere junge Menschen prekären Verhältnissen – häufig in den Herkunftsfamilien – ausgesetzt waren und sind, sowie in diesen Strukturen überleben mussten. Dies führte während der sozialen Isolation in der Pandemie zu einer erhöhten Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. Nun, in der postpandemischen Zeit, wird diese erfahren. Es braucht gute schulsozialarbeiterische Begleitung und Verweisungskompetenz, um auf diese spezifische Lebenslage zu reagieren.


Unsere Forderungen an Sie sind daher:
• eine klare, sichere und verbindliche Förderung der Schulsozialarbeit im Land Sachsen-Anhalt, die Landesaufgabe sein muss und damit Sicherheit für die Träger und deren engagierte Fachkräfte sowie den Schulen mit all ihren Akteur*innen, insbesondere junge queere Menschen gewährt wird,
• eine Einbeziehung der pandemischen Situation und deren resultierenden Bedarfslagen junger queerer Menschen,
• die Berücksichtigung der Wichtigkeit von Schulsozialarbeit für ein offenes Schulklima im Zusammenhang mit sexueller und/oder geschlechtlicher Vielfalt,
• die Berücksichtigung der Wichtigkeit von Schulsozialarbeit als Anlaufstellen, auch in den Regionen außerhalb der Ballungszentren, wo häufig entsprechende Angebote der Kinder-und Jugendhilfe unterrepräsentiert oder gar nicht vorhanden sind – hier vor allem aus dem Blickwinkel der Bedeutsamkeit für junge queere Menschen,
• das Einbeziehen von Herausforderungen und Themen junger queerer Menschen, die nicht nur den schulischen Bereich tangieren, sondern Schüler*innen als Individuum sehen und auch deren multidimensionale Problemlagen im Blick haben,
• junge Menschen als wichtigen Teil der Gesellschaft wahrzunehmen und entsprechend zu agieren.


Wir würden uns freuen, wenn Sie die aufgeführten Punkte wahr- und ernstnehmen und unsere Stellungnahme an die entsprechenden Gremien weiterleiten sowie in die aktuellen Debatten, Beratungen, Entwürfe, Planungen und Beschlussfassungen einbeziehen.


Mit freundlichen Grüßen


Jonathan Franke – KgKJH
Sachsen-Anhalt e.V.,
Mika Taube – Jugendnetzwerk Lambda Mitteldeutschland e.V. &                                                                                                        Daria Majewski

 

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